Post by Peter HeirichDas es doch einen gewissen Verfolgungseifer gab.
Auf welcher Grundlage?
Die in den letzten Jahrzehnten geführten Strafverfahren wegen
NS-Verbrechen sind regelmäßig Folge eines Vorermittlungsverfahrens der
Zentralen Stelle, die das Verfahren bei einem Anfangsverdacht (noch)
verfolgbarer konkreter Straftaten an die örtlich zuständige
Staatsanwaltschaft abgibt.
Bei der Zentralen Stelle von "Verfolgungseifer" zu sprechen, macht
keinen Sinn; es ist vielmehr deren Daseinsgrund und einzige Aufgabe,
Vorermittlungen zu nationalsozialistischen Verbrechen zu führen und dazu
weltweit Material zu sichten, zu sammeln und auszuwerten, um - heute
noch lebende - Beschuldigte ausfindig zu machen, die sich an den Morden
der Nationalsozialisten beteiligt haben.
Und eine Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, bei einem Anfangsverdacht
strafbarer Handlungen tätig zu werden. Einen "Verfolgungseifer" gibt es
da in erster Linie in der Form, dass für diese Verfahren durch die
Justizverwaltung besondere personelle Ressourcen geschaffen und ihre
Bearbeitung priorisiert wird. Das ist aber primär Ausfluss der
besonderen Bedeutung der NS-Zeit für die Bundesrepublik Deutschland als
Gegenentwurf und Folge der besonderen geschichtlichen Verantwortung für
die Verbrechen der damaligen Zeit.
Post by Peter HeirichJa, es wird darin ausdrücklich die Frage Wachdienst vs. bloße Anwesenheit
analysiert.
Demjanuk, Dey, Gröning --> Wachdienst --> Beihilfe
Rn. 438 hatte ich zitiert. Kann man so lesen, dass nicht-Wachpersonal,
konkreter Gegenbeweis ausgenommen, keine Beihilfe leistet.
Dann würde man es falsch lesen. Jedes Urteil - abgesehen
obergerichtliche oder höchstrichterlicher Revisionsurteile, die auch der
Klärung von Rechtsfragen dienen - beschäftigt sich in erster Linie mit
seinem Gegenstand, und hier mit der Frage, ob auch jemand, der "nur auf
dem Turm gestanden und nichts getan" hat, Beihilfe leistet. Die
Strafkammer argumentiert:
| Voraussetzung für den Betrieb eines Konzentrationslagers wie Stutthof
| mit den dort herrschenden lebensfeindlichen Bedingungen und der
| Durchführung von Ermordungen bestimmter Gefangener sind willige und
| gehorsame Untergebene, die jederzeit an den unterschiedlichsten
| Funktionen innerhalb der organisierten Tötungsabläufe eingesetzt werden
| können und sich einsatzbereit halten (vgl. BGH, Beschluss vom 20.
| September 2016 – 3 StR 49/16, BGHSt 61, 252, Rn. 22 ff.). Das Wissen um
| die verfügbaren, wenn auch nicht zwingend namentlich bekannten
| gehorsamen Untergebenen des SS-Totenkopfsturmbanns Stutthof ermöglichte
| der Lagerleitung in Stutthof, die Befehle zu geben, die erforderlich
| waren, um den Tod von Gefangenen zu tausenden herbeizuführen.
|
| Diese fördernde Wirkung gilt für die Befehle des Lagerkommandanten
| Hoppe, mindestens sieben weitere Vergasungsaktionen mit weiteren 175
| Opfern im Herbst 1944 anzuordnen. Sie gilt auch für die Befehle, die
| notwendig waren, um die lebensfeindlichen Bedingungen im
| Konzentrationslager Stutthof aufrecht zu erhalten – sowohl im Hinblick
| auf die besonders katastrophalen Bedingungen in den Baracken mit den
| Nummern 17 bis 25 und 28 bis 30 als auch im Bereich des übrigen
| Stammlagers – und den Tod von mindestens 5.002 Menschen herbeizuführen
| sowie die Tötung von mindestens einem Menschen versuchen zu können. All
| diese Befehle waren durch die Anwesenheit des Angeklagten im
| Konzentrationslager Stutthof und seiner Zugehörigkeit zum
| SS-Totenkopfsturmbann bedingt und wurden dadurch maßgeblich gefördert.
Dann muss sie sich mit der Rechtsprechung des BGH auseinandersetzen,
dass die "Anwesenheit des Angeklagten" und seine "Zugehörigkeit zum
SS-Totenkopfsturmbann" möglicherweise alleine nicht ausreichen. Sie
stellt sich dann auf den Standpunkt,
| dass konkrete Haupttaten und die fördernde Wirkung der Zugehörigkeit
| zur Wachmannschaft für die konkreten Tatentschlüsse festgestellt werden
| können.
Darauf folgt dann die Abwägung in Rn. 438:
| Damit war der hiesige Angeklagte – anders als ggf. _eine_
| _Sekretärin_ oder ein Küchengehilfe oder auch ein Zahnarzt, soweit diesem
| tatsächlich keine Beteiligung an den Verbrechen im Konzentrationslager
| nachgewiesen werden kann, – für die Lagerverantwortlichen jederzeit von
| essentieller Bedeutung für die Erfüllung der menschenverachtenden Ziele,
| die mit der Aufrechterhaltung des Konzentrationslagers Stutthof verfolgt
| wurden, nämlich Menschen zum Ausnutzen ihrer Arbeitskraft gefangen zu
| halten und solche Menschen in der Gefangenschaft des Lagers zu ermorden,
| die aus Sicht der Lagerverantwortlichen in Übereinstimmung mit der
| „Rassenideologie“ des NS-Regimes „wertlose Volksschädlinge“ waren. Denn
| der Angeklagte und die anderen Wachmänner sorgten gerade dafür, dass
| dieses Gefangenhalten und Ermorden überhaupt möglich war."
Möglicherweise sorgte auch eine Sekretärin des Lagerkommandanten, die
"Kenntnis über alle Vorgänge gehabt und [...] über alle dort
systematisch praktizierten Mordmethoden informiert gewesen" war, dafür
dass dieses Gefangenhalten und Ermorden überhaupt möglich war, weil sie
"durch ihre Arbeit "die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers"
gesichert" hat.
<https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-10/kz-sekretaerin-stutthof-prozess-nationalsozialismus-mord>
Das wird die nunmehr zur Entscheidung berufene Kammer zu prüfen haben.
Und wenn man bedenkt, dass die BGH-Entscheidung, die den SS-Zahnarzt von
der Beihilfe freisprach:
| Die bloße Zugehörigkeit des freigesprochenen Angeklagten Dr. Sch. zum
| Lagerpersonal und seine Kenntnis von dem Vernichtungszweck des Lagers
| reichen nach allem nicht aus, ihm die während seines Lageraufenthalts
| begangenen Tötungen zuzurechnen. Von dem konkreten Anklagevorwurf, als
| SS-Zahnarzt Selektionen auf der Rampe durchgeführt und das Einwerfen
| des Giftgases in die Gaskammer überwacht zu haben, hat ihn das SchwurG
| ohne Rechtsfehler mangels Beweises freigesprochen. In der Ausübung
| seiner eigentlichen Tätigkeit im Lager, der zahnärztlichen Behandlung
| des SS-Personals, kann objektiv und subjektiv keine Beihilfe zu den
| Tötungshandlungen gesehen werden.
von 1969 ist, ist auch nicht gesagt, dass der BGH das 2021 ebenfalls so
sehen würde.
Post by Peter HeirichJa, ändert aber wenig am Grundproblem. Muss die Verjährung bei Beihilfe
zwangsweise identisch zur Haupttat sein ?
Sie muss nicht. Es ist allerdings ausgesprochen sinnvoll, sie daran zu
koppeln. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, auf die
Strafbarkeit der Haupttat abzustellen und Strafschärfungen oder
Strafmilderungen für besonders schwere oder minder schwere Fälle, aber
auch für Versuch, Anstiftung oder Beihilfe use. außer Acht zu lassen.
Post by Peter HeirichDie reden da viel über Völkermord und schlimmste NS-Verbrechen. Und die
Vorhersage, dass kaum Fälle auftreten dürften, für welche die verlängerte
Verjährung zutreffend sein wird, ist wohl nicht haltbar, wenn man
Sekretärinnen und ähnliches Hilfpersonal im Blick gehabt hätte.
Zum einen: Wie viele hundert Verfahren wegen NS-Verbrachen gab es
seitdem denn?
Zum anderen: Ob die Einschätzung des Gesetzgebers zur Bedeutung oder den
Konsequenzen einer Norm falsch ist, ändert nichts an der Norm, sondern
allenfalls etwas an der Klugheit der Entscheidung.
Post by Peter HeirichDa kommt man nur raus, wenn man das deutsche Recht verläßt und
internationales Recht benutzt.
So siehst Du das. Die Rechtsprechung sieht es anders.
Mutmaßlich ist letztere Sicht von größerer praktischer Bedeutung.
-thh
--
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>