Post by Stefan SchmitzEben lese ich in der Zeitung, dass die Revisionen im NSU-Prozess seit
Januar dem zuständigen BGH-Senat vorliegen. Das Urteil ist von 2018.
Das Urteil wurde im Juli 2018 verkündet. Die Urteilsabsetzungsfrist
lief nach 438 Verhandlungstagen aber über 21 Monate bis zum April 2020
und wurde vom OLG ausgeschöpft.
Danach wird das Urteil zugestellt, mit der Zustellung beginnt die
einmonatige Begründungsfrist. Die Begründungen werden der Gegenpartei
zugestellt, die dann Gegenerklärungen abgeben kann; die
Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, zu Verfahrensrügen
Gegenerklärungen abzugeben. Wenn das alles erledigt ist, werden die
Akten über die Staatsanwaltschaft dem Revisionsgericht vorgelegt,
gehen also normalerweise von der StA (ggf. über die GenStA) zum GBA.
Der GBA schaut sich das alles an und verfasst eine Zuschrift an den
BGH mit entsprechenden Anträgen; in den Fällen, in denen Revisionen
auf Antrag des GBA einstimmig verworfen werden - also der weit
überwiegenden Zahl -, gibt der BGH dazu nur eine kurze oder gar keine
Begründung. Die Gründe finden sich dann in der Zuschrift des GBA.
Bei dem Umfang der Sache passt das mit dem Zeitraum: wenn das Urteil
im April fertig war, muss die Zustellung verfügt und ausgeführt
werden, das mag ~ eine Woche in Anspruch nehmen, bei dem Umfang des
Urteils mit über 3.000 Seiten eher mehr - man muss es ja drucken und
binden. Vermutlich im Mai beginnt also die Begründungsfrist zu laufen
und endet im Juni. Dann sind die Begründungen zuzustellen und es gibt
die Gelegenheit zu Gegenerklärungen; das kann sonst auch schon mal ein
paar Wochen dauern, dürfte hier aber kaum ins Gewicht fallen, weil der
GBA ja zugleich die Instanzstaatsanwaltschaft war. Irgendwann im
Juli/August werden dann also die Akten - vermutlich Lkw-weise - vom
OLG an den GBA geschickt. Dass der in einer solchen Umfangssache für
seine Zuschrift ein paar Monate braucht, überrascht nicht. (Vor allem,
weil der Senat die Sache ja in der Regel mit der Zuschrift mundgerecht
aufgearbeitet bekommt und offenbar dennoch recht lange darüber
gebrütet hat.) Danach geht es an den BGH, wird vom Vorsitzenden des
zuständigen Senats dem Berichterstatter zugeschrieben, bearbeitet und
irgendwann beraten.
Post by Stefan SchmitzDa frage ich, was in den mehr als zwei Jahren dazwischen mit den
Revisionen passiert ist. Zuerst also nach der Begründungsfrist geschaut.
§ 345 StPO sieht da maximal drei Monate vor.
Das ist die Neufassung vom Juli 2021. Davor - also auch hier - war es
unabänderlich ein Monat. (Der NSU-Prozess war ein Anlass, die Regelung
zu ändern.)
Post by Stefan SchmitzGibt es da noch
Sonderregelungen, die in diesem Fall eine längere Frist erlaubt haben?
Nein.
Post by Stefan SchmitzWenn nein, warum kommen die dann trotzdem erst so spät am BGH an?
Siehe oben.
Post by Stefan SchmitzWann war eigentlich die Urteilsbegründung fertig?
April 2020, siehe oben.
Post by Stefan SchmitzEinen Punkt verstehe ich an diesem Paragraphen auch nicht. Wenn das
Urteil erst spät zu den Akten gebracht wird, beginnt die
Begründungsfrist nicht mit Zustellung des Urteils, sondern mit der
Mitteilung des Zeitpunktes, wann es zu den Akten gebracht wurde.
Sollte man denken, ist aber nicht so - das ist eine verquaste
Formulierung, die der Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz in
das Gesetz "zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur
Änderung weiterer Vorschriften" eingebracht hat.
§ 345 Abs. 1 StPO lautete bis 30.06.2021 wie folgt:
| Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines
| Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem
| Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu dieser
| Zeit das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der
| Zustellung.
Der Gesetzentwurf wollte daraus folgendermaßen eine gestaffelte Frist
machen:
| Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines
| Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem
| Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Die
| Revisionsbegründungsfrist verlängert sich, wenn das Urteil später als
| einundzwanzig Wochen nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden
| ist, um einen Monat und, wenn es später als fünfunddreißig Wochen
| nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden ist, um einen
| weiteren Monat. War bei Ablauf der Frist zur Einlegung des
| Rechtsmittels das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist
| mit der Zustellung.
Der Rechtsausschuss hat da jetzt die heutige Fassung von Satz 3 draus
gemacht:
| [...] War bei Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels das
| Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung
| des Urteils und in den Fällen des Satzes 2 der Mitteilung des
| Zeitpunktes, zu dem es zu den Akten gebracht ist.
Damit sollte erreicht werden, dass immer dann, wenn sich die Frist
verlängert, zusammen mit der Zustellung des Urteils auch mitgeteilt
wird, wie lange es bis zur Absetzung gedauert hat - damit man weiß,
wie lang die Begründungsfrist ist.
Die Frist beginnt also nicht "mit der Zustellung der Mitteilung des
Zeitpunktes, zu dem [das Urteil] zu den Akten gebracht ist", sondern
mit der Zustellung des Urteils _und_ der Mitteilung usw.
Post by Stefan SchmitzWarum diese Unterscheidung? Für denjenigen, der eine Revision begründen
muss, kommt es doch darauf an, dass er die schriftliche
Urteilsbegründung vorliegen hat, also auf die Zustellung. Was spielt es
da für eine Rolle, wann gerichtsintern etwas in die Akten kommt?
Außerdem wird dadurch die Frist verkürzt, denn vermutlich wird erst nach
Aktenlegung zugestellt. (Sollte die Reihenfolge umgekehrt sein,
erschlösse sich mir auch nicht, wozu auf diese Weise die Frist noch
etwas verlängert wird.)
Die Frist beginnt immer mit der Zustellung. Damit der Empfänger aber
weiß, dass er eine verlängerte Frist nutzen kann, bekommt er in diesen
Fällen zusammen mit dem Urteil auch eine Mitteilung zugestellt, wie
lange das Gericht für die Urteilsabsetzung gebraucht hat. (Ja, das
hätte man unbedingt anders formulieren sollen. Aber es passieren
seltsame Dinge, wenn die Ausschüsse sich an Gesetzen verkünsteln ...)
-thh
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