Post by Wolfgang FiegEine systematische Straf- und beamtenrechtliche Fortbildung der Tatort-,
Polizeiruf- usw. Drehbuchautoren wäre so ganz falsch nicht, einfach,
weil ich in meinem privaten Umfeld, vor allem bei jüngeren Leuten,
zunehmend feststelle, dass die glauben, das wäre alles so.
Dringend geboten wäre dann wohl eher eine Fortbildung der "jüngeren
Leute", die ihnen verdeutlicht, dass fiktive Werke keine
Dokumentationen sind.
Nichts im Tatort - und anderen, vergleichbaren Produktionen, die
darüber hinaus oft das US-amerikanische Rechtssystem wiedergeben - hat
etwas mit polizelichen Ermittlungen (in Kapitaldelikten) zu tun.
Nirgendwo ermittelt in solchen Fällen ein Team von zwei (oder auch
vier, oder auch sechs) Personen statt einer Sonderkommission.
Nirgendwo fährt man durch die Gegend, spricht mit Leuten und kommt
dabei auf tolle Ideen, ohne irgendetwas davon zu dokumentieren;
insbesondere wird die "Außenarbeit" gerade nicht von den
Sachbearbeitern (oder den Leitern der einzelnen Abschnitte oder der
Soko) erledigt, sondern von Spurentrupps, die genau umrissene Aufgaben
zu erledigen haben und - trotz regelmäßíger Besprechungen - keinen
vollen Überblick über das Gesamtgeschehen haben. (Fast) nirgendwo gibt
es die aus amerikanischen Krimis übernommenen Vernehmungsräume mit
Einwegspiegeln, Kameras und Tontechnik [1]. Nirgendwo liegen
Ergebnisse von kriminaltechnischen oder Labor-Untersuchungen oder
irgendwelche Auskünfte nach Stunden oder am Folgetag vor; das dauert
Tage, oft Wochen, ggf. Monate. Das weiß aber keiner, das will auch
keiner wissen, und es ist nicht das Konzept solcher Filme, in denen
letztendlich ein oder zwei Hauptpersonen oder ein kleines Team - mit
Personen, mit denen man sich identifizieren kann - alles im Alleingang
klärt. Unsere arbeitsteilige Gesellschaft ist eben nicht so. Sich da
über rechtliche Ungenauigkeiten aufzuregen, geht völlig an der Sache
vorbei; Krimis sind insgesamt reine Phantasieprodukte ohne besonderen
Realitätsbezug. [2]
Das ist auch kein Spezifikum von Krimis.
In der Medizin sieht es genauso aus: Nirgendwo wird bei
Wiederbelebungen ein wenig auf einem Patienten herumgedrückt, worauf
er dann entweder binnen Sekunden dramatisch nach Luft schnappt und zu
sich kommt oder eben leider tot ist. [3] Nein, auch das wilde Schocken
mit einem Defibrillator (gerne bei einer Nulllinie auf dem EKG) macht
die Leute nicht sofort wieder lebendig, so dass sie die Augen
aufschlagen und verwirrt um sich schauen.
Bei der Feuerwehr ist es nicht anders: Es brennt nicht dramatisch mit
großen Flammen, die überall umherzüngeln, ohne dass es schon in der
Nähe im wahrsten Sinne des Wortes glühend heiß wird oder ohne dass es
raucht. Man kann nicht mit einem feuchten Lappen vor dem Mund durch
ein brennendes Haus laufen. Man hat auch keine klare Sicht, man sieht
vielmehr in der Regel die Hand vor Augen nicht; und wenn man sich
länger in einem brennenden Haus aufhält, dann muss man nicht nur ein
bißchen husten. [4]
Und in Actionfilmen wird es ganz wild: Menschen fliegen nicht durch
die Luft, wenn sie von einer Kugel getroffen werden. Die dünnen Türen
eines Autos gewähren auch keinen Schutz gegen Beschuss. Es ist
keineswegs ungefährlich, sich zu prügeln, Menschen niederzuschlagen
oder mit dem Kopf gegen die Wand zu rammen; die stehen dann nicht
einfach wieder auf und sind etwas groggy. Es ist auch nicht
ungefährlich, irgendwo bewusstlos liegenzubleiben; wer von hinten
niedergeschlagen wird, braucht danach nicht nur einen Eisbeutel, um
wieder fit zu sein. Und natürlich ist es im Zweifel fatal, aus schnell
fahrenden Autos, Zügen oder Flugzeugen zu springen. [4]
Entweder braucht also jeder Film einen langen Nachspann, in dem
erklärt wird, dass das alles Phantasie und Unsinn ist (Aber wer wollte
das über seinen Film sagen? Und wer würde so etwas dröges ansehen?),
oder man bemüht sich stattdessen, wieder zu vermitteln, dass Bücher
und Filme Fiktion sind, keine Realität. (Und dass auch außerhalb
fiktiver Publikationen nicht alles wahr ist, nur weil es im Internet
steht oder im Fernsehen kommt; das wäre dann der zweite Schritt.)
-thh
[1] Seitdem bei Kapitaldelikten die audio-visuelle Dokumentation der
Beschuldigtenvernehmung vorgeschrieben ist, gibt es das teilweise
schon; nicht selten wird aber einfach mit einer mobilen Kamera auf
Stativ improsivisiert.
[2] Mit wenigen Ausnahmen. Es gibt eine Reihe von Regional-Krimis, die
die polizeliche Arbeit in einer Sonderkommission einigermaßen
realitätsnah wiedergeben (was daran liegt, dass die Autorin sie aus
eigener Erfahrung kennt). Und es gibt eine sehr gute Dokumentation
(ja, ich weiß, die ist gerade nicht fiktiv) des SWR, der damals für
ein paar Wochen die Kripo begleitet hat und das Glück hatte, dass
genau in diesen Zeitraum ein ungeklärtes Tötungsdelikt fiel, so dass
die Sonderkommission während der Ermittlungen begleitet wurde.
Natürlich ist auch die Doku vor allem auf die "spannenden" Teile
zugeschnitten, aber so würde ein realitätsnaher Krimi aussehen:
<https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/UG45G3GTUKHIYHWWWCUAVQSBHU2HIGBR>
[3] Das ist übrigens im Zweifel eine sehr viel problematischere
Fehlvorstellung als es bei polizeilichen Ermittlungen der Fall ist.
Denn ermitteln muss man als Bürger nicht, wiederbeleben im Zweifel
aber schon.
[4] Auch das alles sind Fehlvorstellungen, die konkret
lebensgefährlich werden können, wenn man glaubt, die Realität sei auch
nur annähernd so, wie sie im Film dargestellt würde.
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