Thomas Hochstein
2022-01-06 11:39:53 UTC
In dieser Reihe stelle ich zum Jahreswechsel die (relevanten) Änderungen
im Strafrecht und Strafprozessrecht der Jahre 2020-2021 im Überblick
dar; vielleicht interessiert es ja den einen oder die andere.
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Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung
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Pflichtverteidiger üben keinen besonderen juristischen Beruf aus oder
sind "schlechtere" Verteidiger als Wahlverteidiger; Pflichtverteidigung
bedeutet nichts anderes, als dass der Staat das Honorar des Verteidigers
(zunächst) übernimmt (theoretisch muss der Verurteilte die Kosten dann
tragen) und der Verteidiger die Verteidigung grundsätzlich nicht
ablehnen kann, also zu ihrer Übernahme verpflichtet ist. Das Gesetz
spricht daher besser vom "notwendigen" oder "bestellten" Verteidiger.
Auch den Pflichtverteidiger wählt sich der Beschuldigte regelmäßig
selbst aus; nicht selten beantragt der Wahlverteidiger bei Vorliegen der
Voraussetzungen seine Beiordnung. Auf diese Weise hat er sein Honorar -
wenn auch auf einem niedrigeren Niveau - gesichert (und ist nicht
gehindert, sich dennoch von seinem Mandanten bezahlen zu lassen; er muss
diese Einkünfte nur auf die Pflichtverteidigervergütung anrechnen).
Der Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers setzt keine Bedürftigkeit
voraus; auch der Millionär bekommt einen Pflichtverteidiger, wenn die
Voraussetzungen vorliegen, und auch der Mittellose bleibt unverteidigt,
wenn die Voraussetzungen einer Beiordnung nicht vorliegen. Eine
Beiordnung kommt regelmäßig bei erheblichen Tatvorwürfen oder bei einer
Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten in Betracht; teilweise gibt
es dazu einen festen Kriterienkatalog (§ 140 Abs. 1 StPO), ergänzend
eine Generalklausel (§ 140 Abs. 2 StPO).
Die Umsetzung der PKH-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über
Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in
Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur
Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) in deutsches Recht
erfolgte durch Modifikationen des Rechts der Pflichtverteidigung; dabei
hat der Gesetzgeber zugleich Regelungen zur bislang nur durch die
Rechtsprechung entschiedenen Fragen ergänzt.
Die Umsetzung erfolgte durch das "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der
notwendigen Verteidigung", flankiert durch das "Gesetz zur Stärkung der
Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren", das
ebenfalls Regelungen zur Pflichtverteidigung enthält.
Folgende wesentliche Änderungen haben sich ergeben:
* Die zwingenden Beiordnungsgründe in § 140 Abs. 1 StPO wurden ergänzt
bzw. modifiziert durch die Erwartung einer Anklage vor dem
Schöffengericht und den Fall der Vorführung des Beschuldigten (früher:
erst mit Beginn der Untersuchungshaft).
* Der Beschuldigte erhält ein eigenes Antragsrecht; zuvor konnte er die
Beiordnung nur anregen, das Antragsrecht hatte nur die
Staatsanwaltschaft.
* Besonders wichtig ist der Zeitpunkt der Beiordnung: Die Entscheidung
muss nunmehr regelmäßig vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten
erfolgen. Das bedeutet andersherum, dass im Falle einer notwendigen
Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten erst erfolgen kann, wenn
ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde - und das wiederum bedeutet
regelmäßig, dass eine Vernehmung (zunächst) gar nicht stattfinden wird,
weil der Verteidiger erst die Akten einsehen möchte. Besondere Bedeutung
erhält diese Regelung, weil in bestimmten Konstellationen (Beschuldigter
befindet sich in Haft, soll vorgeführt werden, kann sich nicht selbst
verteidigen) ein Verteidiger zwingend von Amts wegen - auch ohne Antrag
des Beschuldigten, ja letztlich ohne oder gegen dessen Willen -
beizuordnen ist. Gerade in Fällen schwerer Kriminalität, bei denen
Untersuchungshaft im Raum steht, kann daher in der Praxis eine
Vernehmung des Beschuldigten nicht mehr stattfinden, selbst wenn dieser
nach Belehrung auf die Beiziehung eines Verteidigers vor der Vernehmung
verzichtet. Das ist - aus Sicht der Strafverfolgung - deshalb misslich,
weil so nicht nur ein Geständnis (das unter der Last der Tat gar nicht
so selten erfolgt) nicht möglich ist, sondern auch keine
Festlegevernehmung, die es sonst ermöglicht, eine erste Darstellung des
Tatablaufs durch den Beschuldigen zu erlangen, bevor dieser (nach
Kenntnis der Aktenlage und ggf. fachlich beraten) seine Einlassung an
die nachweisbaren Fakten anpassen kann.
* Aufgrund der Notwendigkeit einer Beiordnung in einem regelmäßig sehr
frühen Stadium erhält die Staatsanwaltschaft eine Eilzuständigkeit für
die Beiordnung.
* Die Zuständigkeit für die Beiordnung wird vor Anklageerhebung beim
Ermittlungsrichter (Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft)
konzentriert.
* Der Wechsel des Pflichtverteidigers wurde gesetzlich geregelt.
* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist. Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.
* In § 70a JGG wurde ein Katalog von Belehrungspflichten geschaffen, in
§§ 67, 67a JGG die Anwesenheits- und Verständigungsrechte der
Erziehungsberechtigten neu geregelt.
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Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen
Verteidigung: <https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251736>
Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von
Beschuldigten im Jugendstrafverfahren:
<https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251767>
Die übrigen in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen finden sich
bspw. bei <https://buzer.de/>.
-thh
im Strafrecht und Strafprozessrecht der Jahre 2020-2021 im Überblick
dar; vielleicht interessiert es ja den einen oder die andere.
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Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung
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Pflichtverteidiger üben keinen besonderen juristischen Beruf aus oder
sind "schlechtere" Verteidiger als Wahlverteidiger; Pflichtverteidigung
bedeutet nichts anderes, als dass der Staat das Honorar des Verteidigers
(zunächst) übernimmt (theoretisch muss der Verurteilte die Kosten dann
tragen) und der Verteidiger die Verteidigung grundsätzlich nicht
ablehnen kann, also zu ihrer Übernahme verpflichtet ist. Das Gesetz
spricht daher besser vom "notwendigen" oder "bestellten" Verteidiger.
Auch den Pflichtverteidiger wählt sich der Beschuldigte regelmäßig
selbst aus; nicht selten beantragt der Wahlverteidiger bei Vorliegen der
Voraussetzungen seine Beiordnung. Auf diese Weise hat er sein Honorar -
wenn auch auf einem niedrigeren Niveau - gesichert (und ist nicht
gehindert, sich dennoch von seinem Mandanten bezahlen zu lassen; er muss
diese Einkünfte nur auf die Pflichtverteidigervergütung anrechnen).
Der Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers setzt keine Bedürftigkeit
voraus; auch der Millionär bekommt einen Pflichtverteidiger, wenn die
Voraussetzungen vorliegen, und auch der Mittellose bleibt unverteidigt,
wenn die Voraussetzungen einer Beiordnung nicht vorliegen. Eine
Beiordnung kommt regelmäßig bei erheblichen Tatvorwürfen oder bei einer
Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten in Betracht; teilweise gibt
es dazu einen festen Kriterienkatalog (§ 140 Abs. 1 StPO), ergänzend
eine Generalklausel (§ 140 Abs. 2 StPO).
Die Umsetzung der PKH-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über
Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in
Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur
Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) in deutsches Recht
erfolgte durch Modifikationen des Rechts der Pflichtverteidigung; dabei
hat der Gesetzgeber zugleich Regelungen zur bislang nur durch die
Rechtsprechung entschiedenen Fragen ergänzt.
Die Umsetzung erfolgte durch das "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der
notwendigen Verteidigung", flankiert durch das "Gesetz zur Stärkung der
Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren", das
ebenfalls Regelungen zur Pflichtverteidigung enthält.
Folgende wesentliche Änderungen haben sich ergeben:
* Die zwingenden Beiordnungsgründe in § 140 Abs. 1 StPO wurden ergänzt
bzw. modifiziert durch die Erwartung einer Anklage vor dem
Schöffengericht und den Fall der Vorführung des Beschuldigten (früher:
erst mit Beginn der Untersuchungshaft).
* Der Beschuldigte erhält ein eigenes Antragsrecht; zuvor konnte er die
Beiordnung nur anregen, das Antragsrecht hatte nur die
Staatsanwaltschaft.
* Besonders wichtig ist der Zeitpunkt der Beiordnung: Die Entscheidung
muss nunmehr regelmäßig vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten
erfolgen. Das bedeutet andersherum, dass im Falle einer notwendigen
Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten erst erfolgen kann, wenn
ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde - und das wiederum bedeutet
regelmäßig, dass eine Vernehmung (zunächst) gar nicht stattfinden wird,
weil der Verteidiger erst die Akten einsehen möchte. Besondere Bedeutung
erhält diese Regelung, weil in bestimmten Konstellationen (Beschuldigter
befindet sich in Haft, soll vorgeführt werden, kann sich nicht selbst
verteidigen) ein Verteidiger zwingend von Amts wegen - auch ohne Antrag
des Beschuldigten, ja letztlich ohne oder gegen dessen Willen -
beizuordnen ist. Gerade in Fällen schwerer Kriminalität, bei denen
Untersuchungshaft im Raum steht, kann daher in der Praxis eine
Vernehmung des Beschuldigten nicht mehr stattfinden, selbst wenn dieser
nach Belehrung auf die Beiziehung eines Verteidigers vor der Vernehmung
verzichtet. Das ist - aus Sicht der Strafverfolgung - deshalb misslich,
weil so nicht nur ein Geständnis (das unter der Last der Tat gar nicht
so selten erfolgt) nicht möglich ist, sondern auch keine
Festlegevernehmung, die es sonst ermöglicht, eine erste Darstellung des
Tatablaufs durch den Beschuldigen zu erlangen, bevor dieser (nach
Kenntnis der Aktenlage und ggf. fachlich beraten) seine Einlassung an
die nachweisbaren Fakten anpassen kann.
* Aufgrund der Notwendigkeit einer Beiordnung in einem regelmäßig sehr
frühen Stadium erhält die Staatsanwaltschaft eine Eilzuständigkeit für
die Beiordnung.
* Die Zuständigkeit für die Beiordnung wird vor Anklageerhebung beim
Ermittlungsrichter (Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft)
konzentriert.
* Der Wechsel des Pflichtverteidigers wurde gesetzlich geregelt.
* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist. Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.
* In § 70a JGG wurde ein Katalog von Belehrungspflichten geschaffen, in
§§ 67, 67a JGG die Anwesenheits- und Verständigungsrechte der
Erziehungsberechtigten neu geregelt.
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Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen
Verteidigung: <https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251736>
Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von
Beschuldigten im Jugendstrafverfahren:
<https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251767>
Die übrigen in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen finden sich
bspw. bei <https://buzer.de/>.
-thh
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Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>