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Neues im Straf(prozessrecht) 2020-2021 (3/6)
(zu alt für eine Antwort)
Thomas Hochstein
2022-01-06 11:39:53 UTC
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In dieser Reihe stelle ich zum Jahreswechsel die (relevanten) Änderungen
im Strafrecht und Strafprozessrecht der Jahre 2020-2021 im Überblick
dar; vielleicht interessiert es ja den einen oder die andere.

----------------------------------------------------------------------

Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung
==============================================

Pflichtverteidiger üben keinen besonderen juristischen Beruf aus oder
sind "schlechtere" Verteidiger als Wahlverteidiger; Pflichtverteidigung
bedeutet nichts anderes, als dass der Staat das Honorar des Verteidigers
(zunächst) übernimmt (theoretisch muss der Verurteilte die Kosten dann
tragen) und der Verteidiger die Verteidigung grundsätzlich nicht
ablehnen kann, also zu ihrer Übernahme verpflichtet ist. Das Gesetz
spricht daher besser vom "notwendigen" oder "bestellten" Verteidiger.
Auch den Pflichtverteidiger wählt sich der Beschuldigte regelmäßig
selbst aus; nicht selten beantragt der Wahlverteidiger bei Vorliegen der
Voraussetzungen seine Beiordnung. Auf diese Weise hat er sein Honorar -
wenn auch auf einem niedrigeren Niveau - gesichert (und ist nicht
gehindert, sich dennoch von seinem Mandanten bezahlen zu lassen; er muss
diese Einkünfte nur auf die Pflichtverteidigervergütung anrechnen).

Der Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers setzt keine Bedürftigkeit
voraus; auch der Millionär bekommt einen Pflichtverteidiger, wenn die
Voraussetzungen vorliegen, und auch der Mittellose bleibt unverteidigt,
wenn die Voraussetzungen einer Beiordnung nicht vorliegen. Eine
Beiordnung kommt regelmäßig bei erheblichen Tatvorwürfen oder bei einer
Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten in Betracht; teilweise gibt
es dazu einen festen Kriterienkatalog (§ 140 Abs. 1 StPO), ergänzend
eine Generalklausel (§ 140 Abs. 2 StPO).

Die Umsetzung der PKH-Richtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über
Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in
Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur
Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) in deutsches Recht
erfolgte durch Modifikationen des Rechts der Pflichtverteidigung; dabei
hat der Gesetzgeber zugleich Regelungen zur bislang nur durch die
Rechtsprechung entschiedenen Fragen ergänzt.

Die Umsetzung erfolgte durch das "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der
notwendigen Verteidigung", flankiert durch das "Gesetz zur Stärkung der
Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren", das
ebenfalls Regelungen zur Pflichtverteidigung enthält.

Folgende wesentliche Änderungen haben sich ergeben:

* Die zwingenden Beiordnungsgründe in § 140 Abs. 1 StPO wurden ergänzt
bzw. modifiziert durch die Erwartung einer Anklage vor dem
Schöffengericht und den Fall der Vorführung des Beschuldigten (früher:
erst mit Beginn der Untersuchungshaft).

* Der Beschuldigte erhält ein eigenes Antragsrecht; zuvor konnte er die
Beiordnung nur anregen, das Antragsrecht hatte nur die
Staatsanwaltschaft.

* Besonders wichtig ist der Zeitpunkt der Beiordnung: Die Entscheidung
muss nunmehr regelmäßig vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten
erfolgen. Das bedeutet andersherum, dass im Falle einer notwendigen
Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten erst erfolgen kann, wenn
ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde - und das wiederum bedeutet
regelmäßig, dass eine Vernehmung (zunächst) gar nicht stattfinden wird,
weil der Verteidiger erst die Akten einsehen möchte. Besondere Bedeutung
erhält diese Regelung, weil in bestimmten Konstellationen (Beschuldigter
befindet sich in Haft, soll vorgeführt werden, kann sich nicht selbst
verteidigen) ein Verteidiger zwingend von Amts wegen - auch ohne Antrag
des Beschuldigten, ja letztlich ohne oder gegen dessen Willen -
beizuordnen ist. Gerade in Fällen schwerer Kriminalität, bei denen
Untersuchungshaft im Raum steht, kann daher in der Praxis eine
Vernehmung des Beschuldigten nicht mehr stattfinden, selbst wenn dieser
nach Belehrung auf die Beiziehung eines Verteidigers vor der Vernehmung
verzichtet. Das ist - aus Sicht der Strafverfolgung - deshalb misslich,
weil so nicht nur ein Geständnis (das unter der Last der Tat gar nicht
so selten erfolgt) nicht möglich ist, sondern auch keine
Festlegevernehmung, die es sonst ermöglicht, eine erste Darstellung des
Tatablaufs durch den Beschuldigen zu erlangen, bevor dieser (nach
Kenntnis der Aktenlage und ggf. fachlich beraten) seine Einlassung an
die nachweisbaren Fakten anpassen kann.

* Aufgrund der Notwendigkeit einer Beiordnung in einem regelmäßig sehr
frühen Stadium erhält die Staatsanwaltschaft eine Eilzuständigkeit für
die Beiordnung.

* Die Zuständigkeit für die Beiordnung wird vor Anklageerhebung beim
Ermittlungsrichter (Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft)
konzentriert.

* Der Wechsel des Pflichtverteidigers wurde gesetzlich geregelt.

* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist. Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.

* In § 70a JGG wurde ein Katalog von Belehrungspflichten geschaffen, in
§§ 67, 67a JGG die Anwesenheits- und Verständigungsrechte der
Erziehungsberechtigten neu geregelt.

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Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen
Verteidigung: <https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251736>

Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von
Beschuldigten im Jugendstrafverfahren:
<https://dip.bundestag.de/vorgang/.../251767>

Die übrigen in Bezug genommenen gesetzlichen Regelungen finden sich
bspw. bei <https://buzer.de/>.

-thh
--
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>
Stefan Schmitz
2022-01-06 13:50:22 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Pflichtverteidiger üben keinen besonderen juristischen Beruf aus oder
sind "schlechtere" Verteidiger als Wahlverteidiger; Pflichtverteidigung
bedeutet nichts anderes, als dass der Staat das Honorar des Verteidigers
(zunächst) übernimmt (theoretisch muss der Verurteilte die Kosten dann
tragen) und der Verteidiger die Verteidigung grundsätzlich nicht
ablehnen kann, also zu ihrer Übernahme verpflichtet ist. Das Gesetz
spricht daher besser vom "notwendigen" oder "bestellten" Verteidiger.
Auch den Pflichtverteidiger wählt sich der Beschuldigte regelmäßig
selbst aus; nicht selten beantragt der Wahlverteidiger bei Vorliegen der
Voraussetzungen seine Beiordnung. Auf diese Weise hat er sein Honorar -
wenn auch auf einem niedrigeren Niveau - gesichert (und ist nicht
gehindert, sich dennoch von seinem Mandanten bezahlen zu lassen; er muss
diese Einkünfte nur auf die Pflichtverteidigervergütung anrechnen).
Inwiefern hat das Honorar eines Pflichtverteidigers niedrigeres Niveau
als das eines Wahlverteidigers ohne gesonderte Vergütungsvereinbarung?
Welche gesetzlichen Gebühren entgehen dem Pflichtverteidiger?

Hat es für den Beschuldigten dann finanzielle Nachteile, wenn sich einen
Wahlverteidiger sucht, der erst später als Pflichtverteidiger
beigeordnet wird?
Post by Thomas Hochstein
* Besonders wichtig ist der Zeitpunkt der Beiordnung: Die Entscheidung
muss nunmehr regelmäßig vor der ersten Vernehmung des Beschuldigten
erfolgen. Das bedeutet andersherum, dass im Falle einer notwendigen
Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten erst erfolgen kann, wenn
ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde - und das wiederum bedeutet
regelmäßig, dass eine Vernehmung (zunächst) gar nicht stattfinden wird,
weil der Verteidiger erst die Akten einsehen möchte. Besondere Bedeutung
erhält diese Regelung, weil in bestimmten Konstellationen (Beschuldigter
befindet sich in Haft, soll vorgeführt werden, kann sich nicht selbst
verteidigen) ein Verteidiger zwingend von Amts wegen - auch ohne Antrag
des Beschuldigten, ja letztlich ohne oder gegen dessen Willen -
beizuordnen ist. Gerade in Fällen schwerer Kriminalität, bei denen
Untersuchungshaft im Raum steht, kann daher in der Praxis eine
Vernehmung des Beschuldigten nicht mehr stattfinden, selbst wenn dieser
nach Belehrung auf die Beiziehung eines Verteidigers vor der Vernehmung
verzichtet.
Das ist IMHO nur ein Stück mehr Gerechtigkeit. So sind nicht mehr die
cleveren Beschuldigten im Vorteil, die um die Bedeutung einer
anwaltlichen Vertretung wissen und sich deshalb nicht zu einem Verzicht
bequatschen lassen.

Das ist - aus Sicht der Strafverfolgung - deshalb misslich,
Post by Thomas Hochstein
weil so nicht nur ein Geständnis (das unter der Last der Tat gar nicht
so selten erfolgt) nicht möglich ist, sondern auch keine
Festlegevernehmung, die es sonst ermöglicht, eine erste Darstellung des
Tatablaufs durch den Beschuldigen zu erlangen, bevor dieser (nach
Kenntnis der Aktenlage und ggf. fachlich beraten) seine Einlassung an
die nachweisbaren Fakten anpassen kann.
Der Begriff "Festlegevernehmung" war mir neu.
Nach Nachlesen ist mir nicht so recht klar, warum die so wichtig sein
soll. Was spricht dagegen, diese Einlassung nach anwaltlicher Beratung
mit der Begründung anzupassen, dass man sich damals falsch erinnert hat?

(Hier die Erstaussage "Ich war nie bei Prostituierten in München".
https://www.zeit.de/zett/2020-03/mord-und-totschlag-so-liefen-die-vernehmungen-des-verhoerspezialisten-josef-wilfling)
Post by Thomas Hochstein
* Aufgrund der Notwendigkeit einer Beiordnung in einem regelmäßig sehr
frühen Stadium erhält die Staatsanwaltschaft eine Eilzuständigkeit für
die Beiordnung.
Dann kann es also doch recht zügig zu einer Vernehmung kommen.
Post by Thomas Hochstein
* Die Zuständigkeit für die Beiordnung wird vor Anklageerhebung beim
Ermittlungsrichter (Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft)
konzentriert.
Wo lag sie zu dem Zeitpunkt bisher?
Post by Thomas Hochstein
* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist.
Was ist da jetzt der Unterschied zu Erwachsenen, wenn auch die ohne
Verteidiger nicht vernommen werden dürfen?
Post by Thomas Hochstein
Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.
Video extra für den abwesenden Verteidiger, oder aus anderem Grund?
Ich nehme an, Videovernehmung bedeutet normale Vernehmung plus
Videoaufzeichnung. Oder sehen sich Vernehmer und Vernommener nur per Video?
Thomas Hochstein
2022-01-06 15:24:30 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
Inwiefern hat das Honorar eines Pflichtverteidigers niedrigeres Niveau
als das eines Wahlverteidigers ohne gesonderte Vergütungsvereinbarung?
Das kannst Du in Anlage 1 (zu § 2 Abs. 2) RVG in Teil 4 selbst
nachlesen. Die Festgebühren für den beigeordneten Verteidiger liegen
etwas unter 50% der Gebührenspanne für den Wahlververteidiger.
Post by Stefan Schmitz
Welche gesetzlichen Gebühren entgehen dem Pflichtverteidiger?
Ihm entgehen keine Gebühren; die Sätze sind nur niedriger, nämlich aufh
80% der Mittelgebühr beschränkt. Wo der Wahlverteidiger bspw. für die
Grundgebühr (Nr. 4100) nach billigem Ermessen eine Gebühr zwischen
44-396 € abrechnen kann (und die Mittelgebühr für die durchschnittliche
Sache durchschnittlicher Schwierigkeit und Bedeutung also bei 220 €
liegt), bekommt der Pflichtverteidiger fest 176 € glatt.
Post by Stefan Schmitz
Hat es für den Beschuldigten dann finanzielle Nachteile, wenn sich einen
Wahlverteidiger sucht, der erst später als Pflichtverteidiger
beigeordnet wird?
Üblicherweise nicht. Gegen den leistungsfähigen Mandanten hat auch der
Pflichtverteidiger einen Anspruch auf Zahlung der gesetzlichen Gebühren
des Wahlanwalts, soweit ich sehe.

Zum Gebührenrecht der Rechtsanwälte sollte aber lieber jemand etwas
schreiben, der sich damit auskennt. :)
Post by Stefan Schmitz
Das ist IMHO nur ein Stück mehr Gerechtigkeit. So sind nicht mehr die
cleveren Beschuldigten im Vorteil, die um die Bedeutung einer
anwaltlichen Vertretung wissen und sich deshalb nicht zu einem Verzicht
bequatschen lassen.
So kann man das sehen. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass es
eigentlich nicht Ziel des Strafverfahrens ist, dafür zu sorgen, dass der
Beschuldigte möglichst nicht der ihm vorgeworfenden Tat überführt wird.
Wir kommen ja (bislang) auch noch nicht auf die Idee, dass wir
Fingerabdrücke nicht verwerten, weil das ungerecht dem gegenüber ist,
der nicht clever genug war, Handschuhe zu tragen ...
Post by Stefan Schmitz
Der Begriff "Festlegevernehmung" war mir neu.
Nach Nachlesen ist mir nicht so recht klar, warum die so wichtig sein
soll.
Um einen Beschuldigten oder Zeugen - zu einem frühen Zeitpunkt - auf
*eine* Darstellung des Kerngeschehens festzulegen, bevor er sich mit
anderen absprechen oder seine Darstellung an den Ermittlungsstand
anpassen kann.
Post by Stefan Schmitz
Was spricht dagegen, diese Einlassung nach anwaltlicher Beratung
mit der Begründung anzupassen, dass man sich damals falsch erinnert hat?
Nichts. Es muss eben nur jemand glauben. Je nachdem, wie man sich
"falsch erinnert" hat oder "missverstanden" wurde, ist das mehr oder
weniger wahrscheinlich.

Man kann seine Einlassung auch drei- oder viermal anpassen. Die
Erfolgsaussichten sind überschaubar.
Post by Stefan Schmitz
(Hier die Erstaussage "Ich war nie bei Prostituierten in München".
https://www.zeit.de/zett/2020-03/mord-und-totschlag-so-liefen-die-vernehmungen-des-verhoerspezialisten-josef-wilfling)
Sinn und Zweck der Festlegevernehmung ist es u.a. - wie der Artikel
recht gut darstellt -, solche Ausflüchte auszuschließen und den
Vernommenen auf eine Variante festzulegen, ohne Doppeldeutigkeiten oder
Platz für Missverständnisse, damit sich Divergenzen zwischen der Aussage
und anderen Ermittlungsergebnissen, wenn sie auftreten, hinterher nicht
"wegerklären" lassen. Das gilt natürlich auch für Zeugen und Geschädigte
in gleicher Weise.
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
* Aufgrund der Notwendigkeit einer Beiordnung in einem regelmäßig sehr
frühen Stadium erhält die Staatsanwaltschaft eine Eilzuständigkeit für
die Beiordnung.
Dann kann es also doch recht zügig zu einer Vernehmung kommen.
Theoretisch ja, praktisch nein. Kein Verteidiger, der weiß, was er tut,
wird seinen Mandanten aussagen lassen, ohne die Akten zu kennen (und sie
erörtert zu haben).
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
* Die Zuständigkeit für die Beiordnung wird vor Anklageerhebung beim
Ermittlungsrichter (Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft)
konzentriert.
Wo lag sie zu dem Zeitpunkt bisher?
Die Änderung war tatsächlich schon 2017, mit dem StPO-Reformgesetz;
zuvor war das Gericht zuständig, bei dem Anklage zu erheben sein würde.
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist.
Was ist da jetzt der Unterschied zu Erwachsenen, wenn auch die ohne
Verteidiger nicht vernommen werden dürfen?
Bei Erwachsenen gibt es Konstellationen, in denen die Bestellung nicht
von Amts wegen erfolgen muss, auf sie also (untechnisch gesprochen)
verzichtet werden kann.
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.
Video extra für den abwesenden Verteidiger, oder aus anderem Grund?
Die amtliche Begründung nimmt auf Art. 9 Abs. 1 der "Richtlinie (EU)
2016/800 [...] über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder,
die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind",
Bezug. Erwägungsgrund 42 der Richtlinie lautet:
| Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren
| sind, können den Inhalt von Befragungen, denen sie unterzogen werden,
| nicht immer verstehen. Um einen ausreichenden Schutz für diese Kinder
| sicherzustellen, sollte deren Befragung durch die Polizei oder andere
| Strafverfolgungsbehörden daher audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn
| dies verhältnismäßig ist, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist,
| ob ein Rechtsbeistand zugegen ist oder den Kindern die Freiheit
| entzogen ist, wobei das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung sein
| sollte.

Was der Normgeber damit sagen will? Your guess is as good as mine.
Post by Stefan Schmitz
Ich nehme an, Videovernehmung bedeutet normale Vernehmung plus
Videoaufzeichnung.
Ja, die Vernehmung wird in Bild und Ton aufgezeichnet, teilweise in
speziellen Videovernehmungsräumen, oft aber wohl schlicht mit einer
simplen Videokamera auf einem Stativ.

-thh
--
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Stefan Schmitz
2022-01-06 17:48:11 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Welche gesetzlichen Gebühren entgehen dem Pflichtverteidiger?
Ihm entgehen keine Gebühren; die Sätze sind nur niedriger, nämlich aufh
80% der Mittelgebühr beschränkt. Wo der Wahlverteidiger bspw. für die
Grundgebühr (Nr. 4100) nach billigem Ermessen eine Gebühr zwischen
44-396 € abrechnen kann (und die Mittelgebühr für die durchschnittliche
Sache durchschnittlicher Schwierigkeit und Bedeutung also bei 220 €
liegt), bekommt der Pflichtverteidiger fest 176 € glatt.
Dann kann er also auch mehr bekommen als ein Wahlverteidiger im unteren
Bereich der Spanne. Da könnte es sich schon lohnen, sich auf
Pflichtverteidigungen in Routinesachen zu spezialisieren.
Oder ist ein Anwalt in seinem billigen Ermessen so frei, dass nie
unterhalb der Mittelgebühr abgerechnet wird?
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Das ist IMHO nur ein Stück mehr Gerechtigkeit. So sind nicht mehr die
cleveren Beschuldigten im Vorteil, die um die Bedeutung einer
anwaltlichen Vertretung wissen und sich deshalb nicht zu einem Verzicht
bequatschen lassen.
So kann man das sehen. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass es
eigentlich nicht Ziel des Strafverfahrens ist, dafür zu sorgen, dass der
Beschuldigte möglichst nicht der ihm vorgeworfenden Tat überführt wird.
Wir kommen ja (bislang) auch noch nicht auf die Idee, dass wir
Fingerabdrücke nicht verwerten, weil das ungerecht dem gegenüber ist,
der nicht clever genug war, Handschuhe zu tragen ...
Es ist schon ein Unterschied, ob man sich bei der Tat ungeschickt
anstellt oder beim Verzicht auf seine Rechte als Beschuldigter.
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Der Begriff "Festlegevernehmung" war mir neu.
Nach Nachlesen ist mir nicht so recht klar, warum die so wichtig sein
soll.
Um einen Beschuldigten oder Zeugen - zu einem frühen Zeitpunkt - auf
*eine* Darstellung des Kerngeschehens festzulegen, bevor er sich mit
anderen absprechen oder seine Darstellung an den Ermittlungsstand
anpassen kann.
Post by Stefan Schmitz
Was spricht dagegen, diese Einlassung nach anwaltlicher Beratung
mit der Begründung anzupassen, dass man sich damals falsch erinnert hat?
Nichts. Es muss eben nur jemand glauben. Je nachdem, wie man sich
"falsch erinnert" hat oder "missverstanden" wurde, ist das mehr oder
weniger wahrscheinlich.
Letztlich muss ihm die Tat nachgewiesen werden. Und die Beweise werden
nicht dadurch besser, dass er seine Aussage bei der Polizei später
korrigiert.
Post by Thomas Hochstein
Man kann seine Einlassung auch drei- oder viermal anpassen. Die
Erfolgsaussichten sind überschaubar.
Post by Stefan Schmitz
(Hier die Erstaussage "Ich war nie bei Prostituierten in München".
https://www.zeit.de/zett/2020-03/mord-und-totschlag-so-liefen-die-vernehmungen-des-verhoerspezialisten-josef-wilfling)
Sinn und Zweck der Festlegevernehmung ist es u.a. - wie der Artikel
recht gut darstellt -, solche Ausflüchte auszuschließen und den
Vernommenen auf eine Variante festzulegen, ohne Doppeldeutigkeiten oder
Platz für Missverständnisse, damit sich Divergenzen zwischen der Aussage
und anderen Ermittlungsergebnissen, wenn sie auftreten, hinterher nicht
"wegerklären" lassen. Das gilt natürlich auch für Zeugen und Geschädigte
in gleicher Weise.
Und was hätte diese Festlegung geholfen, wenn er nicht später gestanden
hätte, sondern der Anwalt erklärte: "Mein Mandant hat sich bei der
ersten Vernehmung falsch erinnert. Erst durch die späteren Vorhaltungen
sind ihm die zuvor abgestrittenen Kontakte wieder eingefallen."?
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
* Für Jugendliche und Heranwachsende, also 14-20jährige, ist ein
Pflichtverteidiger immer vor der Vernehmung von Amts wegen zu bestellen,
wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist.
Was ist da jetzt der Unterschied zu Erwachsenen, wenn auch die ohne
Verteidiger nicht vernommen werden dürfen?
Bei Erwachsenen gibt es Konstellationen, in denen die Bestellung nicht
von Amts wegen erfolgen muss, auf sie also (untechnisch gesprochen)
verzichtet werden kann.
Weil auch auf die Vernehmung verzichtet wird?
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Nimmt ein
Pflichtverteidiger an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teil, muss
diese zwingend als Videovernehmung erfolgen.
Video extra für den abwesenden Verteidiger, oder aus anderem Grund?
Die amtliche Begründung nimmt auf Art. 9 Abs. 1 der "Richtlinie (EU)
2016/800 [...] über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder,
die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind",
| Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren
| sind, können den Inhalt von Befragungen, denen sie unterzogen werden,
| nicht immer verstehen. Um einen ausreichenden Schutz für diese Kinder
| sicherzustellen, sollte deren Befragung durch die Polizei oder andere
| Strafverfolgungsbehörden daher audiovisuell aufgezeichnet werden, wenn
| dies verhältnismäßig ist, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist,
| ob ein Rechtsbeistand zugegen ist oder den Kindern die Freiheit
| entzogen ist, wobei das Kindeswohl immer eine vorrangige Erwägung sein
| sollte.
Was der Normgeber damit sagen will? Your guess is as good as mine.
Wohl eher nicht das, was ich vermutet habe.

Allerdings steht da auch nicht "zwingend, wenn kein Verteidiger dabei".
Geht Deutschland da über die Richtlinie hinaus, oder hast du ungenau
dargestellt?
Stefan Schmitz
2022-01-06 19:51:35 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Nichts. Es muss eben nur jemand glauben. Je nachdem, wie man sich
"falsch erinnert" hat oder "missverstanden" wurde, ist das mehr oder
weniger wahrscheinlich.
Letztlich muss ihm die Tat nachgewiesen werden.
Die Tat muss zur festen Überzeugung des erkennenden Gerichts feststehen,
wobei sich diese Überzeugung auf begründbare Tatsachen und Schlüsse
stützen muss.
Klar. Dass der Angeklagte sich bei seiner polizeilichen Aussage in
Widersprüche verstrickt hat, ist aber eher keine solche Tatsache.
Post by Stefan Schmitz
Und die Beweise werden nicht dadurch besser, dass er seine Aussage bei
der Polizei später korrigiert.
Ich würde eher sagen: die Glaubwürdigkeit einer bestreitenden Einlassung
wird nicht dadurch besser, dass sie (mehrfach) korrigiert wird,
insbesondere wenn diese Korrektur in einer Anpassung an den Stand der
Ermittlungen besteht.
Auch das.
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Sinn und Zweck der Festlegevernehmung ist es u.a. - wie der Artikel
recht gut darstellt -, solche Ausflüchte auszuschließen und den
Vernommenen auf eine Variante festzulegen, ohne Doppeldeutigkeiten oder
Platz für Missverständnisse, damit sich Divergenzen zwischen der Aussage
und anderen Ermittlungsergebnissen, wenn sie auftreten, hinterher nicht
"wegerklären" lassen. Das gilt natürlich auch für Zeugen und Geschädigte
in gleicher Weise.
Und was hätte diese Festlegung geholfen, wenn er nicht später gestanden
hätte, sondern der Anwalt erklärte: "Mein Mandant hat sich bei der
ersten Vernehmung falsch erinnert. Erst durch die späteren Vorhaltungen
sind ihm die zuvor abgestrittenen Kontakte wieder eingefallen."?
Dafür braucht es einen verdammt guten Grund, den dann noch jemand
glauben muss.
----------------------------------------------------------------------
Waren Sie jemals in München bei einer Prostitutierten? - Nein.
Sind Sie sicher? Vielleicht ist das schon lange her und Sie erinnern
sich nicht? - Nein, ganz sicher, war ich nicht. Daran würde ich mich
doch erinnern!
Ist Ihnen das vielleicht peinlich? Muss es nicht. Es ist schon wichtig,
dass Sie uns hier die Wahrheit sagen, in Ihrem eigenen Interesse. -
Nein, das wäre mir nicht peinlich, warum auch? Ich sage die Wahrheit.
Jetzt frage ich Sie ganz konkret: Waren Sie 2002 einmal in München bei
einer Prostitutierten? - Nein, auch 2002 nicht. Wie oft wollen Sie das
nooch fragen?
Waren Sie 2002 überhaupt mal in München? Denken Sie bitte genau nach. -
*Denkpause* Nein, war ich nicht.
Vielleicht können wir mal zusammen rekonstruieren, was Sie Jahr 2002
alles gemacht haben. (Der Jahresverlauf wird zusammengetragen.)
Okay. Nur um ganz sicher zu gehen: Sie waren im Juli 2002 ganz sicher
nicht in München? - Nein, sicher nicht. Jetzt reicht es aber allmählich!
Ganz konkret: am 17.07.2002? - NEIN! Wie oft noch?
Wissen Sie noch, wo sie am 17.07.2002 waren? - Nein, nicht genau. Aber
mit Sicherheit nicht in München!
Es geht uns um eine Wohnung in der XY-Straße, schauen Sie mal hier auf
dem Stadtplan. - Ich war da noch nie. Das sagt mir gar nichts. Ich war,
ich wiederhole es gerne, im Juli 2002 nicht in München. Wir haben doch
das ganze Jahr 2002 durchgekaut. Da war ich nicht in München, und erst
recht nicht bei einer Prostituierten! An so etwas würde ich mich doch
erinnern. Ich bin niemand, der ständig in den Puff geht. Was glauben Sie
denn eigentlich von mir?
Gut, vielen Dank. Einen kleinen Moment, wir drucken das jetzt mal aus.
Hier, schauen Sie, lesen Sie sich das in Ruhe durch, und wenn Sie fertig
sind, unterschreiben Sie. - *liest* *unterschreibt*
So. Jetzt muss ich doch noch einmal auf das Thema zurückkommen. Sie sind
sich ganz sicher, dass Sie am 17.07.2002 nicht in einer Wohnung im 2. OG
der XY-Straße 123 waren, bei einer Frau ABC? -Jetzt ist aber gut! Nein,
das war ich nicht!
Können Sie uns dann erklären, wie Ihr Fingerabdruck auf ein Glas in der
Wohnung dieser Frau kommt? - Nein, das kann ich nicht ... Moment. Sagten
Sie 17.07.2002? Hach, jetzt fällt's mir wieder ein! Da war ich doch bei
dieser Prostituierten in der XA-Straße 123! Das mit dem Gedächtnis ist
doch ein tolles Ding, das spielt einem alle möglichen Streiche.
*slowclap*
In dem Fall ist es doch eigentlich egal, ob er seine Anwesenheit zugibt
oder nicht. Die ist mit den Fingerabdrücken bewiesen.

Würde er wegen eines Mordes am 17.7.2002 verurteilt werden, nur weil
seine Anwesenheit am Tatort nachgewiesen wird, die er vorher so vehement
abgestritten hat? Und freigesprochen, wenn er anwaltlichen Beistand
abgewartet hätte und erst nach Kenntnis der Ermittlungen die Aussage
gemacht hätte "ja, ich war an dem Tag da"?

Entlasten könnte eher, wenn ihm die Anwesenheit an einem früheren Tag
wieder einfiele, die die Fingerabdrücke erklären kann. Würde er danach
auch so penetrant gefragt?
--------------------------------------------------------------------
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Bei Erwachsenen gibt es Konstellationen, in denen die Bestellung nicht
von Amts wegen erfolgen muss, auf sie also (untechnisch gesprochen)
verzichtet werden kann.
Weil auch auf die Vernehmung verzichtet wird?
Nein, weil der Beschuldigte nach Belehrung auf die Beiordnung eines
Verteidigers vor der Vernehmung verzichtet (bzw. keinen Antrag stellt)
und eine Beiordnung von Amts wegen nicht erforderlich ist.
Wie das im Falle notwendiger Verteidigung? Du sagtest doch, "dass im
Falle einer notwendigen Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten
erst erfolgen kann, wenn ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde".
Thomas Hochstein
2022-01-07 11:36:22 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
In dem Fall ist es doch eigentlich egal, ob er seine Anwesenheit zugibt
oder nicht. Die ist mit den Fingerabdrücken bewiesen.
Ja. Und die Anwesenheit macht ihn natürlich hochverdächtig für die Tat,
aber die kann man auch anders erklären; zumindest kann man sich eine
Story einfallen lassen, bei der es schwer fällt, ihr nicht zu folgen.

Wenn man sich aber bereits darauf festgelegt hat, nie dort gewesen zu
sein, ist es deutlich weniger glaubhaft, wenn man dann eine tolle
Erklärung bringt, warum man dort war, aber natürlich in ganz anderem
Zusammenhang.
Post by Stefan Schmitz
Würde er wegen eines Mordes am 17.7.2002 verurteilt werden, nur weil
seine Anwesenheit am Tatort nachgewiesen wird, die er vorher so vehement
abgestritten hat? Und freigesprochen, wenn er anwaltlichen Beistand
abgewartet hätte und erst nach Kenntnis der Ermittlungen die Aussage
gemacht hätte "ja, ich war an dem Tag da"?
Die Wahrscheinlichkeit für ersteres ist deutlich höher als in der
letzteren Variante.
Post by Stefan Schmitz
Wie das im Falle notwendiger Verteidigung? Du sagtest doch, "dass im
Falle einer notwendigen Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten
erst erfolgen kann, wenn ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde".
Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, muss (im Regelfall)
vor der Vernehmung über die Beiordnung entschieden werden. Konkret muss
über einen Antrag auf Beiordnung vor der Vernehmung entschieden werden;
wird kein Antrag gestellt, gibt es auch nichts zu entscheiden, d.h. der
Beschuldigte kann grundsätzlich auf die Beiordnung verzichten.

Das gilt aber dann nicht, wenn die Beiordnung von Amts wegen zu erfolgen
hat; dann muss sie vor der Vernehmung von Amts wegen, auch ohne und
sogar gegen den Willen des Beschuldigten, erfolgen. Das ist u.a. der
Fall, wenn der Beschuldigte dem Hafrichter vorgeführt werden soll, also
insbesondere bei gravierenden Straftaten.

-thh
--
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>
Martin Gerdes
2022-01-25 23:26:12 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
In dem Fall ist es doch eigentlich egal, ob er seine Anwesenheit zugibt
oder nicht. Die ist mit den Fingerabdrücken bewiesen.
Ja. Und die Anwesenheit macht ihn natürlich hochverdächtig für die Tat,
aber die kann man auch anders erklären; zumindest kann man sich eine
Story einfallen lassen, bei der es schwer fällt, ihr nicht zu folgen.
Die Wahrheit ist üblicherweise plausibel und widerspruchsfrei. Das gilt
für eine Story nicht.


Ich bin ein unduldsamer Krimi- oder generell Filmgucker. Mir fallen
Ungereimtheiten in der Story auf, und ich stoße mich daran.

Warum etwa müssen sich die Leute von Hogwarts so fürchterlich
anstrengen, Harry Potter das Einladungsschreiben zur Zauberschule
zuzustellen? Die können doch zaubern und könnten den Brief doch völlig
unproblematisch in Harrys Gelaß zaubern, ohne daß die bösen Stiefeltern
etwas davon mitbekommen. Ok, wäre dramaturgisch sicher längst nicht so
eindrucksvoll gewesen.
Post by Thomas Hochstein
Wenn man sich aber bereits darauf festgelegt hat, nie dort gewesen zu
sein, ist es deutlich weniger glaubhaft, wenn man dann eine tolle
Erklärung bringt, warum man dort war, aber natürlich in ganz anderem
Zusammenhang.
Das war ein erfolgreicher Vernehmungsbeamter, der dem Verdächtigen eben
doch eine Aussage aus der Nase gezogen hat (und ihn dazuhin mächtig
verunsichert hat). Hätte der Verdächtige eisern geschwiegen (Was in
dieser Situation verteufelt schwierig ist!), hätte man ihn nicht aufs
Glatteis geführt.
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Würde er wegen eines Mordes am 17.7.2002 verurteilt werden, nur weil
seine Anwesenheit am Tatort nachgewiesen wird, die er vorher so vehement
abgestritten hat?
Und freigesprochen, wenn er anwaltlichen Beistand
abgewartet hätte und erst nach Kenntnis der Ermittlungen die Aussage
gemacht hätte "ja, ich war an dem Tag da"?
Die Wahrscheinlichkeit für ersteres ist deutlich höher als in der
letzteren Variante.
Klar.
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Wie das im Falle notwendiger Verteidigung? Du sagtest doch, "dass im
Falle einer notwendigen Verteidigung eine Vernehmung des Beschuldigten
erst erfolgen kann, wenn ihm ein Verteidiger beigeordnet wurde".
Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, muss (im Regelfall)
vor der Vernehmung über die Beiordnung entschieden werden. Konkret muss
über einen Antrag auf Beiordnung vor der Vernehmung entschieden werden;
wird kein Antrag gestellt, gibt es auch nichts zu entscheiden, d.h. der
Beschuldigte kann grundsätzlich auf die Beiordnung verzichten.
Das gilt aber dann nicht, wenn die Beiordnung von Amts wegen zu erfolgen
hat; dann muss sie vor der Vernehmung von Amts wegen, auch ohne und
sogar gegen den Willen des Beschuldigten, erfolgen. Das ist u.a. der
Fall, wenn der Beschuldigte dem Haftrichter vorgeführt werden soll, also
insbesondere bei gravierenden Straftaten.
Martin Gerdes
2022-01-25 23:26:12 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
Und was hätte diese Festlegung geholfen, wenn er nicht später gestanden
hätte, sondern der Anwalt erklärte: "Mein Mandant hat sich bei der
ersten Vernehmung falsch erinnert. Erst durch die späteren Vorhaltungen
sind ihm die zuvor abgestrittenen Kontakte wieder eingefallen."?
Dafür braucht es einen verdammt guten Grund, den dann noch jemand
glauben muss.
Wenn der Verdacht besteht, daß die Polizei einen verdächtigt, ist es
eine gute Idee, sich zur Sache nicht zu äußern.

Es ist das gute Recht des Verdächtigen zu schweigen. Die Wahrnehmung
dieses Rechtes behindert die polizeiliche Ermittlungsarbeit allerdings
ganz erheblich, infolgedessen ist der Durchschnittspolizist heftigst
erpicht darauf, den Verdächtigen zu "knacken", damit er schließlich doch
etwas sagt (was man dann prompt gegen ihn verwendet).

Ein Täter ist nach der Tat sehr häufig emotional in einer
Ausnahmesituation, auch die Vernehmungssituation ist eine
Ausnahmesituation. Beides zusammen erhöht erheblich die
Wahrscheinlichkeit, daß sich der Verdächtige um Kopf und Kragen redet.

Zum Glück für die Ermittlungsbehörden tun das ziemlich viele.

Es ist vermutlich ziemlich schwierig, bei der Polizei den Mund zu
halten, vor allem, solange man ohne Beistand ist.
Ulf Kutzner
2022-01-18 07:58:43 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Das ist IMHO nur ein Stück mehr Gerechtigkeit. So sind nicht mehr die
cleveren Beschuldigten im Vorteil, die um die Bedeutung einer
anwaltlichen Vertretung wissen und sich deshalb nicht zu einem Verzicht
bequatschen lassen.
So kann man das sehen. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass es
eigentlich nicht Ziel des Strafverfahrens ist, dafür zu sorgen, dass der
Beschuldigte möglichst nicht der ihm vorgeworfenden Tat überführt wird.
Wir kommen ja (bislang) auch noch nicht auf die Idee, dass wir
Fingerabdrücke nicht verwerten, weil das ungerecht dem gegenüber ist,
der nicht clever genug war, Handschuhe zu tragen ...
Vielleicht solltest Du zu den Briten wechseln, wo bereits Schweigen
des Beschuldigten in förmlicher polizeilicher Vernehmung nachteilig
ausgelegt werden darf.
Thomas Hochstein
2022-01-18 18:47:08 UTC
Permalink
Post by Ulf Kutzner
Vielleicht solltest Du zu den Briten wechseln,
Nein, danke; Geschworenensysteme sind der Rechtsfindung nicht besonders
dienlich.
Stefan Schmitz
2022-01-18 19:09:38 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Ulf Kutzner
Vielleicht solltest Du zu den Briten wechseln,
Nein, danke; Geschworenensysteme sind der Rechtsfindung nicht besonders
dienlich.
Gibt es Statistiken dazu, wie anfällig die jeweiligen Systeme für
Fehlurteile sind?

Das Strafmaß legen die Geschworenen ja nicht fest, und auch hierzulande
mischen Schöffen mit.
Thomas Hochstein
2022-01-18 20:02:31 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Nein, danke; Geschworenensysteme sind der Rechtsfindung nicht besonders
dienlich.
Gibt es Statistiken dazu, wie anfällig die jeweiligen Systeme für
Fehlurteile sind?
Vermutlich nicht - schon deshalb, weil man kaum je weiß, ob das Urteil ein
Fehlurteil war.
Post by Stefan Schmitz
Das Strafmaß legen die Geschworenen ja nicht fest,
Ein schwacher Trost.
Post by Stefan Schmitz
und auch hierzulande mischen Schöffen mit.
Ja. Nichts ist vollkommen. :)

-thh
Stefan Schmitz
2022-01-18 20:36:31 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
Das Strafmaß legen die Geschworenen ja nicht fest,
Ein schwacher Trost.
Post by Stefan Schmitz
und auch hierzulande mischen Schöffen mit.
Ja. Nichts ist vollkommen. :)
Welchen konkreten Nachteil hast du infolge deren Mitwirkung feststellen
können?

Der Gesetzgeber hat sie ja nicht ohne Grund eingesetzt. Vermutlich, um
so existenzielle Entscheidungen über die Freiheit eines Menschen ein
bisschen vom Verdacht der Voreingenommenheit zu befreien.
Thomas Hochstein
2022-01-21 19:05:43 UTC
Permalink
Post by Stefan Schmitz
Post by Thomas Hochstein
Post by Stefan Schmitz
und auch hierzulande mischen Schöffen mit.
Ja. Nichts ist vollkommen. :)
Welchen konkreten Nachteil hast du infolge deren Mitwirkung feststellen
können?
Die erste Frage müsste doch sein, welche Vorteile die Besetzung eines
Gerichts mit Schöffen - zudem in einer Anzahl, die ihnen entweder die für
eine Verurteilung erforderliche 2/3-Mehrheit gibt (Schöffengericht, Kleine
Strafkammer) oder zumindest dafür sorgt, dass die Berufsrichter diese
Mehrheit nicht haben (Große Strafkammer) - bringt.

Aufgabe des Gerichts ist es, über die Schuldfrage und die Strafzumessung
zu entscheiden. Dazu gehört es, Feststellungen zur Person des Angeklagten
und zur Sache zu treffen, diese tragfähig zu begründen (Beweiswürdigung)
und unter die abstrakten Rechtsnormen zu subsumieren (rechtliche
Würdigung) und schließlich innerhalb des vom Gesetz gegebenen, meist sehr
weiten Strafrahmens eine tat- und schuldangemessene Strafe zu finden. Zu
diesem Zweck wird zunächst der Angeklagte angehört (wenn er sich äußern
will), dann werden Zeugen und Sachverständige gehört, Urkunden vorgelesen
und Augenscheinsobjekte angesehen sowie die Schlussvorträge von
Staatsanwaltschaft und Verteidigung gehört.

Für die rechtliche Bewertung sind die Schöffen offensichtlich nicht
qualifiziert und umfassend auf die Beratung durch die Berufsrichter
angewiesen; sie werden in der Regel schon die gesetzlichen Regelungen
nicht kennen, insbesondere aber nicht deren Auslegung durch Literatur und
Rechtsprechung.

In der Beweisaufnahme hat zunächst der Vorsitzende, dann die übrigen
Mitglieder des Gerichts, danach üblicherweise Staatsanwaltschaft,
Verteidigung und Angeklagter das Fragerecht. Zielführende Fragen setzen
zum einen gute Aktenkenntnis voraus - die die Schöffen nicht haben dürfen;
der Einblick in die Akten ist ihnen verwehrt -, zum anderen helfen
Kenntnisse der Aussage- und Vernehmungspsychologie sowie der üblichen
polizeilichen und strafprozessualen Abläufe, um das, was man hört
einordnen zu können. Das gilt genauso für die Bewertung von
Zeugenaussagen, aber auch von Sachbeweisen. Richter, Staatsanwälte und
Rechtsanwälte lernen das z.T. im Rahmen des Studiums und des
Referendariats und sammeln ansonsten im Rahmen ihrer Berufstätigkeit
(üblicherweise ein Sitzungstag pro Woche, auch ansonsten Beschäftigung mit
der Materie an jedem Arbeitstag) umfangreiche Erfahrungen; Schöffen lernen
das nicht und werden sehr zudem viel seltener eingesetzt.

Die Strafzumessung ist am Anfang das Schwierigste - woher soll man wissen,
ob für einen Diebstahl nun fünf Tagessätze Geldstrafe oder fünf Jahre
Freiheitsstrafe richtig sind? Juristen haben damit im Rahmen ihrer
Ausbildung schon Kontakt; für Alltagskriminalität gibt es oft
unverbindliche Kataloge und sonst lokale Üblichkeiten, an denen man sich
orientieren kann, und ansonsten gehört dazu natürlich sehr viel Erfahrung.
Schöffen fehlt dies in der Regel, und sie kennen natürlich auch die
Rechtsprechung zu den Strafzumessungskriterien nicht.

Mir erschließt sich daher der Input, den Schöffen sinnvollerweise in den
Prozess der Urteilsfindung einspeisen können, nicht wirklich; ich sehe
vielmehr die Gefahr, ermangels Kenntnis und Erfahrung nicht aus dem
Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen, sondern nach
Sympathie/Antipathie zu entscheiden oder dem rhetorisch besseren
Schlussvortrag zu folgen. Die Gefahr, sich von sachfremden Erwägungen
leiten zu lassen, ist immer latent vorhanden; sie ist aber natürlich
besonders groß, wenn man aufgrund fehlender Kenntnis und Erfahrung kaum
eine Basis für Sacherwägungen hat.

Die größte Gefahr ist aber gar nicht unbedingt, dass Schöffen falsche
Entscheidungen treffen und mit ihrer Mehrheit durchsetzen, sondern
vielmehr, dass sie durch wohlmeinendes, aber ungeschicktes Verhalten das
Verfahren platzen lassen, weil ihnen auch insoweit die Kenntnisse und
Erfahrungen fehlen. Jeder Vorsitzende fürchtet es, wenn Schöffen von ihrem
Fragerecht Gebrauch machen, weil die Gefahr groß ist, dass eine
ungeschickte Frage einen erfolgreichen Befangenheitsantrag begründet - von
anderen Fährnissen (wie dem Schöffen, der dem Gericht und den
Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft einen Schoko-Nikolaus hinstellt,
aber nicht den Verteidigern) ganz abgesehen.

Die meisten Schöffen machen daher von ihrem Fragerecht keinen Gebrauch,
sitzen brav dabei und orientieren sich auch in der Urteilsberatung an dem
oder den Berufsrichter(n) - sie sind ja auch meist argumentativ kaum in
der Lage, dem etwas entgegenzusetzen. Dann aber sind sie weitgehend
überflüssig. Wenn sie aber von ihrem Fragerecht Gebrauch machen und in der
Urteilsberatung eigene persönliche Auffassungen durchzusetzen suchen, ist
das ganz weit überwiegend schädlich.
Post by Stefan Schmitz
Der Gesetzgeber hat sie ja nicht ohne Grund eingesetzt.
Im Jahr 1877 sah die Welt doch ein wenig anders aus als heute.
Post by Stefan Schmitz
Vermutlich, um
so existenzielle Entscheidungen über die Freiheit eines Menschen ein
bisschen vom Verdacht der Voreingenommenheit zu befreien.
Weshalb ausgerechnet Staatsschutzsache vor dem OLG verhandelt werden, bei
dem keine Schöffen mitwirken? ;)

-thh
--
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>
Wolfgang Fieg
2022-01-26 12:37:31 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Post by Ulf Kutzner
Vielleicht solltest Du zu den Briten wechseln,
Nein, danke; Geschworenensysteme sind der Rechtsfindung nicht besonders
dienlich.
Die Mitwirkung von Geschworenen an der Justiz war - ebenso wie die
Forderung nach Öffentlichkeit der Prozesse - eine durchaus revolutionäre
Forderung des deutschen Bürgertums, eine Reaktion auf die als
obrgkeitsstaatlich empfundenen landesherrliche Geheimjustiz.

Es ist schon ein Unterschied, ob Schöffen, Geschworene, ehrenamtliche
Richter, Handelsrichter usw. zusammen mit Berufsrichtern in einem
Spruchkörper sitzen oder ob es eine Trennung von Geschworenen- und
Richterbank gibt, wie noch heute in GB und den USA. Im ersteren Falle
sind sie auf Diskurs, möglichst auf Verständigung angewiesen, im
letzteren Falle schmoren "12 Menschen durchschnittlicher Ingnoranz" in
ihrem eigenen Saft. Sie sind noch nicht einmal gezwungen, offen zu
legen, wie und warum sie zu ihrem Spruch gekommen sind. In D hatten wir
bis 1924 Schwurgerichte mit 12 Geschworenen für den Schuldspruch und
drei Berufsrichtern für das Strafmaß. Hielten die Berufsrichter den
Schuldspruch für falsch, kam das dann im Strafmaß zum Ausdruck, was
letztlich auch nicht als befriedigend empfunden wurde. 1924 kam dann das
einheitliche Schwurgericht mit drei Berufsrichtern und sechs
Geschworenen, in den 1970er Jahren die Schwurgerichtskammer, die im
Prinzip nicht anders zusammengesetzt ist, als jede andere Strfkammer auch.

Über die Sinnhaftigkeit von Schöffen und Geschworenen in der Strafjustiz
kann ich mich nicht weiter aulassen, da fehlt mir die Erfahrung. Die
Kammern für Handelssachen wurden eingeführt, weil Handelsbräuche ja
durchaus Rechtsnormqualität haben können und man unterstellt hat, dass
Kaufleute mit diesen in besoderer Weise vertraut sind. Allerdings hört
man, dass es schwieriger wird Vertreter der "Kaufmannschaft", die es ja
so im globalisierten Kapitalismus kaum noch gibt, zu gewinnen und dass
auch die Verweisung an diese Kammern immer seltener beantragt wird.

Unverzichtbar ist die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in der Arbeits-
und Sozialgerichtsbarkeit. Da geht es nicht nur um "Vertrautsein mit der
Arbeitswelt", das ist der Berufsrichter unter den heutigen Verhältnissen
in der Justiz auch, sondern durchaus um unterschiedliche
sozialökonmische Interessenlagen, um die konkrete Entstehung einer
Tarifnorm, um den Willen der Tarifvertragsparteien usw. Deshalb wirken
ehrenamtliche Richter in diesen beiden Zweigen auch bis zu den obersten
Gerichtshöfen des Bundes mit.

Wolfgang
Thomas Hochstein
2022-01-26 17:42:11 UTC
Permalink
Post by Wolfgang Fieg
Post by Thomas Hochstein
Nein, danke; Geschworenensysteme sind der Rechtsfindung nicht besonders
dienlich.
Die Mitwirkung von Geschworenen an der Justiz war - ebenso wie die
Forderung nach Öffentlichkeit der Prozesse - eine durchaus revolutionäre
Forderung des deutschen Bürgertums, eine Reaktion auf die als
obrgkeitsstaatlich empfundenen landesherrliche Geheimjustiz.
Dass Geschworene einmal als sinnvoll empfunden wurden, sei vorausgesetzt,
sonst hätte man sie ja nicht eingeführt.

Das begründet aber noch nicht, dass sie heute der Rechtsfindung dienlich
sind.
Post by Wolfgang Fieg
In D hatten wir
bis 1924 Schwurgerichte mit 12 Geschworenen für den Schuldspruch und
drei Berufsrichtern für das Strafmaß. Hielten die Berufsrichter den
Schuldspruch für falsch, kam das dann im Strafmaß zum Ausdruck, was
letztlich auch nicht als befriedigend empfunden wurde. 1924 kam dann das
einheitliche Schwurgericht mit drei Berufsrichtern und sechs
Geschworenen, in den 1970er Jahren die Schwurgerichtskammer, die im
Prinzip nicht anders zusammengesetzt ist, als jede andere Strfkammer auch.
Das ist mir wohlbekannt.
Post by Wolfgang Fieg
Kammern für Handelssachen wurden eingeführt, weil Handelsbräuche ja
durchaus Rechtsnormqualität haben können und man unterstellt hat, dass
Kaufleute mit diesen in besoderer Weise vertraut sind. [...]
Unverzichtbar ist die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in der Arbeits-
und Sozialgerichtsbarkeit. Da geht es nicht nur um "Vertrautsein mit der
Arbeitswelt", das ist der Berufsrichter unter den heutigen Verhältnissen
in der Justiz auch, sondern durchaus um unterschiedliche
sozialökonmische Interessenlagen, um die konkrete Entstehung einer
Tarifnorm, um den Willen der Tarifvertragsparteien usw. Deshalb wirken
ehrenamtliche Richter in diesen beiden Zweigen auch bis zu den obersten
Gerichtshöfen des Bundes mit.
Ehrenamtliche Richter in Kammern für Handelssachen und in der Arbeits-
oder Sozialgerichtsbarkeit bringen ihre besonderen Fachkenntnisse ein bzw.
können die Sache insbesondere aus Sicht einer Gruppierung
(Arbeitgeber/Arbeitnehmer, Arbeitgeber/Versicherte,
Krankenkassen/Vertragsärzte usw.) in den Blick nehmen; das gibt einen
nachvollziehbaren Mehrwert. In der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit
erschließt sich mir der Mehrweit hingegen noch nicht.

-thh
--
Liste juristischer Online-Ressourcen: <https://th-h.de/law/lawlinks/>
Gesetzestexte, Rechtsprechung und Fundstellen: <http://dejure.org/>
Gesetze und Verordnungen (deutsches Bundesrecht): <http://buzer.de/>
Freie Rechtsprechungs-Dokumentation (Urteile): <http://openjur.de/>
Ulf Kutzner
2022-01-26 21:04:20 UTC
Permalink
Post by Thomas Hochstein
Ehrenamtliche Richter in Kammern für Handelssachen und in der Arbeits-
oder Sozialgerichtsbarkeit bringen ihre besonderen Fachkenntnisse ein bzw.
können die Sache insbesondere aus Sicht einer Gruppierung
(Arbeitgeber/Arbeitnehmer, Arbeitgeber/Versicherte,
Krankenkassen/Vertragsärzte usw.) in den Blick nehmen; das gibt einen
nachvollziehbaren Mehrwert. In der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit
erschließt sich mir der Mehrweit hingegen noch nicht.
„Hierbei ist darauf abzustellen, wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer
und verständiger Empfänger die Formulierung des [...]“

Da schaut der Berufsrichter kurz in den Spiegel, na klar!

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